# 314:  © Hilmar Alquiros, Philippines

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Dr. Hilmar Klaus, Aachen

 

  „Das Tao der Weisheit“

老子 Lǎozĭ (Laotse)     道德經 Dàodéjīng (Tao Te King)

 

 „Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne, der uns beschützt und der uns hilft, zu leben.“

 So lautet die wunderschöne viel zitierte Zeile in Hermann Hesses Ge­dicht Stufen. Um so mehr gilt dies für den Uranfang von allem, das  Dào (Tao) – wörtlich „der Weg“, auch des Lebens, der Lauf der Natur, der Ursprung des Universums, die Einheit aller Gegensätze …

 

 Dào: zentraler Begriff der chinesischen Philosophie, insbesondere des 道教 Dàoismus (Taoismus), einer (keineswegs nur mystischen) Naturphilo­sophie des vorchristlichen China, die ihren gebündelten, wohl formulierten, bahnbrechenden Ausgangspunkt im 道德  Dàodéjīng (Tao-Te-King) findet.

 

 Dieses nach der Bibel meistübersetzte Buch aller Zeiten ist außerge­wöhnlich in seinem überwältigenden Inhalt wie auch seiner im wahrsten Sinne des Wortes „verdichteten“ Form, ist aphoristisch pointiert und größtenteils sogar gereimt, von Anfang an also Philosophie und Kunst­werk zugleich.

 

 Der Schöpfer dieser zeitlosen, ebenso altehrwürdigen wie hochmodernen Schrift, 老子 Lǎozĭ (Laotse), schrieb es etwa 400 v.Chr., der Legende nach beim Verlassen des Landes auf Bitten eines Grenzwächters hin, den seinerseits Bertolt Brecht dichterisch – mit einer Prise Humor! – ver­ewigt hat.[1] Erst etwa 500 Jahre später wurde diese Philosophie aus einer Sektenbewegung heraus zusätzlich ausgeschmückt und mystifiziert, wor­aus der religiöse Dàoismus entstand.

 

 Die weltweite wissenschaftliche Analyse des Dàodéjīng vervielfältigte sich seit der überraschenden Entdeckung (1973/1993[2]) weit früherer Fassungen des Textes als in 2000 Jahren zuvor, war man doch fast ein halbes Jahrtausend näher an das Original herangerückt, mit eher grammatischen und marginalen, inhaltlich aber verblüffend geringen Unterschieden!

 

 „Am Anfang war das Wort …“ – in den ersten chinesischen Übersetzun­gen der Bibel durch christliche Missionare im 17. und 18. Jahrhundert griff man nicht von ungefähr zu „Am Anfang war das Tao…“: Dào bedeutet auch Logos – aber eben nicht nur.[3]

 

 Sogar eine konkrete Nebenbedeutung des Wortes Dào „sagen, aussagen, sprechen; definieren“ wird schon in der ersten Zeile des Dàodéjīng von Lǎozĭ verschmitzt als Wortspiel genutzt:

 

道可道,非常道
(dào kě dào, fēi cháng dào)

Dàokann man es definieren, ist es nicht das ewige Dào.

Dào – if you can define it, it is not the eternal Dào.

 

 Dào ist auch ein Gefühl für das All-Eine, für die Summe aller Naturgesetze; nicht ohne Grund sieht man seit Capras Tao der Physik immer deutlichere Parallelen moderner quantentheoretischer Deutungen des Universums und der letzten Gesetzmäßigkeiten, wie sie von Lǎozĭ beschrieben werden.

 

 Aber auch Themen wie Erhaltung der Natur, Vermeidung von Kriegen, weise, nachhaltige Führung statt besitzergreifende Politik behandelt Lǎozĭ ebenso unmissverständlich und zeitlos gültig wie individuelle Lebensführung und natürliches Lösen der Probleme möglichst noch vor ihrer Entstehung.

 

 Aller Gewalt, allem äußeren Besitzstreben, aller Begehrlichkeit schlechthin hält Lǎozĭ einen makellosen Spiegel entgegen; selbst die Geschwister Scholl beriefen sich in den Flugblättern der „Weißen Rose“ auch und gerade auf Lǎozĭ[4]!

 

 Lǎozĭ’s „drei Juwelen“ des rechten Weges heißen vielmehr  Genügsamkeit,  Bescheidenheit und  Liebe – im Sinne einfühlen­der Nächstenliebe. Wen wundert es da noch, dass auch die Übereinstim­mungen mit der Philosophie eines gewissen Jesus von Nazareth er­schöpfenden Analysen unterzogen wurden, mit vielerlei Parallelitäten, die wohlgemerkt zugleich Vorwegnahmen um mehr als 400 Jahre darstellen…

 

 Wir alle hörten einmal das sprichwörtliche „Jede Reise beginnt mit einem ersten Schritt“, vielfach ohne zu ahnen, dass es aus dem Dàodéjīng stammt; Gott schützt die Liebenden ist schon in „Wen der Himmel retten will, den schützt er durch die Liebe“ (Kap. 67)[5] vorgegeben etc.

 

 Hermann Hesse wusste, warum er in Siddartha den Fährmann zu guter Letzt dàoistische Weisheiten aussprechen lässt: im Symbol des Wassers, im Ewigen Fluss, in der Liebe als höchstem Gut, im Weg über Hinduismus und Buddhismus hinaus zur Ewigen Mutter. Er schrieb dieses Buch einige Jahre nach dem Tod seines Vaters Johannes Hesse, früherer protestantischer Missionar in Indien, der zuvor immerhin eine eigene Bro­schüre über das Dàodéjīng publiziert hatte: Lao-tsze. Ein vorchristlicher Wahrheitszeuge; auch Hermanns erste Spuren chinesischer Studien finden sich seit diesem Jahr, etwa im Romanfragment Das Haus der Träume.

 

 Von Jung bis Jaspers, von Hegel bis Heidegger haben sich große Gelehrte ebenso eingehend mit Laotse befasst wie namhafte Schriftsteller: Warum gab Luise Rinser einmal in einem Interview zu... ihr helfe in dunklen Zeiten weder das Christentum noch der Buddhismus, sondern „nur die alte chinesische Philosophie: der Taoismus...“?! – Elias Canetti gab die Antwort: „Am Taoismus hat mich immer angezogen, daß er die Verwandlung kennt und gutheißt, ohne zur Position des indischen oder europäischen Idealismus zu gelangen. … Er ist die Religion der Dichter, auch wenn sie es nicht wissen...“.[6]

 

 Wir verstehen intuitiv, warum in der Legende vom östlichen philosophischen Dreigestirn, beim Kosten von Essig, Konfuzius ihn sauer, Buddha ihn bitter fand, Lǎozĭ aber auch dem Essig noch Süße abzugewinnen vermochte …

 *

 

Quellen:

ISBN: Hardcover 978-3-8107-0032-2 59.80 € 
            Softcover 978-3-8107-0041-4 
29.80 €

Hochschulverlag Aachen info@verlag-mainz.de www.tao-te-king.org

http://www.amazon.de/Das-Tao-Weisheit-Laozi-Daodejing/dp/3810700320/ref=sr_1_1?ie=UTF8&s=books&qid=1228427216&sr=8-1

 

[1] www.tao-te-king.org/brecht.htm dts. + engl. (“legend of the origin of the book tao-te-ching on lao-tsu's road into exile”)

[2] 王弼 Wáng Bì (226-249) = trad. Version; 馬王堆 Mǎwángduī (1973) A=206 v. Chr., B=179 v. Chr.,  Guōdiàn (1993) ~300 v. Chr. samt einer kleinen Kosmogonie大一生水 Taiyi shengshui („The Great One Gave Birth to Water“)

[3] 太初有道、 道與 神同在、 道就是 神。(tài chū yǒu dào, dào yǔ shēn tóng zài, dào jiù shì   shēn = “In the beginning was the Word, and the Word was with God, and the Word was God.” – www.ccim.org/bible/multi_b5.html )

[4] www.tao-te-king.org/Weisserose.htm

[5] 天將救之 以慈衛之(tiān jiāng jiù zhī yǐ cí wèi zhī); wörtlich: „Der Himmel, mag er retten jemandendurch Liebe schützt er ihn.“

[6] Die Provinz des Menschen“, Frankfurt/M. 1976, S. 279 f.

 

 

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