# 436: © 2006 Hilmar Alquiros, Philippines

 

 

 

Zugzwang

 

Zugzwang

 

 An untouched sheet of paper rests beside a steaming cup of tea in the dining car of the Berlin–Aachen Intercity. A day beyond ordinary Saturdays invites the unrestrained expression of all that seeks to be reconsidered and relived in the intense impressions of a week of rebirth.

 

 Ein jungfräuliches Blatt Papier wartet geduldig darauf, mit Worten gefüllt zu werden, neben einer dampfenden Tasse Tee - im Speisewagen des Intercity Berlin-Aachen. Ein Tag, der mehr noch als gewöhnliche Samstage zum mutwilligen Ausdruck all dessen einlädt, was an intensiven Eindrücken einer Wiedergeburtswoche überdacht und nachgefühlt werden will.

 

 Facing the direction of travel, I gaze out the window at the oncoming future, rushing toward me in the swelling rhythm of my experience – like a galley master reminding me of life’s fleeting nature. To seize a chance in time, one must leap onto the train of time, aging step by step until lying in one’s final throes. Curiously, I watch my right hand as it carelessly sets down a first stanza:

 In Fahrtrichtung blicke ich aus dem Fenster: auf eine Zukunft hin, die scheinbar auf mich zu eilt, im anschwellenden Geleisentakt meines Erlebens, ähnlich einem Taktgeber in einer Galeere, der an unsere begrenzte Zeit erinnert. Um rechtzeitig zum Zuge zu kommen, heißt es, auf den Zug der Zeit zu springen, Zug um Zug alt zu werden, bis man in den letzten Zügen liegen wird ... Neugierig beobachte ich meine rechte Hand, wie sie unbekümmert eine erste Strophe niederschreibt:

 

Zugzwang

 

1

The futures open their folding door:

Invite for thousandfold a life,

their sense so quiet, but hopes to roar -

in clearest endeavor and blindfold drive...

 

Zugzwang

 

1

Die Zukünfte öffnen die Flügeltüren:

sie laden zu tausendfachem Gang,

lauthälsiger Hoffnung und stillem Spüren -

in klarem Bestreben und blindem Drang ...

 

 Once again I choose train travel, with its undercurrent of romantic nostalgia, drawn by the enchantment of stations where greetings and farewells meet, where the familiar mingles with the new – where thrownness appears in the unsolicited stream of events, tempered by acquiescence to the wheelwork of time. A lukewarm sip of tea... and my pen makes a second attempt:

 Wieder einmal entscheide ich mich für eine Zugreise, mit einem Hauch von romantischer Nostalgie, angezogen von der Magie der Bahnhöfe, die Begrüßung und Abschied miteinander verbinden und Vertrautes mit Neuem vermischen, Geworfenheit aufzeigen im unbestellten Strom der Ereignisse, gemildert um die Einwilligung in das Räderwerk der Zeit. Einen Schluck Tee, der bereits an Wärme verloren hat, und der Stift wagt einen neuen Versuch:

 

2

Must longings fork infinitely

and winding through their endless maze -

Needs earthly, fables heavenly

To battle for their valid ways..

 

2

Unendlich müssen sich Sehnsüchte gabeln

sich windend durchs endlose Labyrinth -

wenn irdische Nöte und himmlische Fabeln

erstreiten, wo sinnvolle Wege sind ...

 

 It had been eight years – eight long, strange years – since I had entered the metropolis that was supposed to become my second home. Since I had breathed in that morbid luck at Zoo Station, wandered past the Turkish shops in Kreuzberg 36, and savored the artistic atmosphere behind the gray façades. That was the time: after the successful separation, before the great decision. Eight years that bore the name Maria...

 Acht Jahre ist es her - acht lange, seltsame Jahre, dass ich die Metropole betreten hatte, die doch meine zweite Heimat hätte werden sollen. Seit ich jenes morbide Glück im Bahnhof Zoo eingeatmet hatte, seit ich an den türkischen Läden in Kreuzberg 36 vorbeigeschlendert war, die künstlerische Stimmung hinter den grauen Fassaden genossen hatte. Damals: nach der geglückten Trennung, vor der großen Entscheidung. Acht Jahre die Maria hießen ...

 

 Why was I not even able to marvel at the vanished wall, just a few hundred meters from Edna’s house? Why did I fail to notice that everyone had grown eight years older? Everyone – except Edna herself, the Earth Mother. Of course not her. She was my spiritual elder… no, my great spiritual sister. For a quarter of a century she had been the anchor in the unpredictable ocean of my feelings. Timelessly wise, with large childlike eyes, she always offered unquestioning closeness – in vision and in word.

 Warum habe ich mich nicht einmal wundern können über die verschwundene Mauer, ein paar hundert Meter von Ednas Haus entfernt, warum habe ich nicht bemerken können, dass sie alle acht Jahre älter geworden waren? Nur Edna selbst, die Erdmutter, natürlich nicht; meine geistige große ... nein, meine große geistige Schwester, seit einem Vierteljahrhundert Anker im unberechenbaren Ozean meiner Gefühle. Zeitlos weise, mit großen Kinderaugen, bot sie stets fraglose Nähe an - in Blick und Wort.

 

 Even before my early marriage, we had known one another. We had recognized ourselves in the same boundless striving, able to listen to each other effortlessly, even as we both spoke at the same time.

 Sogar noch vor meiner frühen Ehe damals hatten wir uns kennen- und schätzen gelernt, da wir einander im gleichen uferlosen Bemühen erkannt hatten und uns gegenseitig mühelos zuhören konnten, während wir beide zugleich sprachen.

 

3

Mysteriously the traces to brighten

Of the never boarded trains, in fact,

As inner switchmen they will enlighten

Twixt wish and vapour a narrow act...

 

3

Als mysteriöse Spurenerheller

der niemals zuvor betretenen Bahn

beleuchten die inneren Weichensteller

den schmalen Grat zwischen Wunsch und Wahn ...

 

 Stuffed with the charm of contradiction, searching for the lost self, in the perpetual compulsion to flee the paralysis of self-abandonment. Was it mere chance that, already on the outward journey, against all intent to read, I met that petite, eloquent lady – and even told her about my project on happiness? After pointing out Heinrich von Morungen’s medieval notion of happiness, the “swebende wunne,” she finally admitted to being a literary scholar. Our sparkling conversation had awakened our spirits too much, as if we wished to avoid any exchange of future contact altogether.

 Vollgestopft mit dem Charme des Widerspruchs, auf der Suche nach dem verlorenen Ich, im immerwährenden Zugzwang, vor der Erstarrung der Selbstaufgabe fliehen zu müssen. War es Fügung, dass ich auf der Hinfahrt schon, gegen alle Leseabsicht, jene zierliche, sprachgewandte Dame kennenlernte, und ich ihr sogar von meinem Glücksprojekt erzählte? Nachdem sie mich auf Heinrich von Morungens mittelalterliche Glücksvorstellung, die „swebende wunne“, hingewiesen hatte, musste sie sich zu guter Letzt doch zur Literaturwissenschaftlerin bekennen. Zu sehr hatte das perlende Gespräch unsere Geister geweckt, als dass wir den Austausch künftiger Erreichbarkeit hätten gänzlich vermeiden wollen.

 

 Between the practice of literature and of life, happiness lies in the pursuit of knowledge and love: a fantastical destination emerges, beckoning beyond the less glamorous waypoints.

 Zwischen der Praxis der Literatur und des Lebens liegt das Glück im Streben nach Wissen und Liebe: ein fantastisches Endziel taucht auf, das jenseits der weniger glamourösen Wegpunkte winkt.

 

4

Half outside, half inside: how nice it would be,

If the path of knowledge had signposts, assume!

As logical calculus, voice deep in me

In the human distorting mirror’s room...

 

4

Wie schön es doch wär', wenn halb außen, halb innen

der Pfad der Erkenntnis einen Wegweiser hätt'!

als Logikkalkül oder Stimme tief-drinnen

im menschlichen Zerrspiegel-Kabinett ...

 

 Charlotte had led us through East Berlin, without seeming the least bit strange, with the familiar silvery sand in the hourglass – unreachable and yet near... Still with Thomas?

 Charlotte hatte uns durch Ostberlin geführt, ohne auch nur ein bisschen fremd zu wirken, mit dem vertrauten silbrigen Sand im Stundenglas, unerreichbar und nah ... Noch immer mit Thomas?

 

 Well... the shore of resolution already glimmers behind the dune. “Hanne is doing really well,” Edna said with peculiar emphasis. Hanne, who back then struggled so much between toil and esotericism, yet was full of humor – just before and after our night.

 Na ja, ... das Gestade der Lösung glimmert bereits hinter der Düne hervor. Hanne geht es nun wirklich gut, sagte Edna mit eigenartigem Nachdruck. Hanne, die es damals so schwer hatte zwischen Mühsal und Esoterik, doch voller Humor, kurz vor und nach unserer Nacht.

 

 Humanity cannot be hidden; she seemed not the least disappointed, despite all the announcements wrapped in Edna’s familiar drudgery. Next time, I will visit her without the mediating flow of words, to feel closer to her spark of the soul. My wall has fallen too – my two halves must also grow together, patiently, organically. Irrepressible freedom longs to be restrained in life’s zugzwang, drawn, seduced, and shaped by the magnetic pull of the final destination.

 Menschlichkeit lässt sich nicht verstecken; sie schien keinen Deut enttäuscht, trotz aller Ankündigungen in Ednas bewährter Saumseligkeit. Nächstes Mal werde ich sie einmal ohne vermittelnden Redestrom besuchen, um auch ihr Seelenfünklein näher zu spüren. Auch meine Mauer ist gefallen, auch meine beiden Hälften müssen zusammenwachsen - geduldig, organisch. Die unbändige Freiheit will gezügelt werden im Zugzwang des Lebens, von der Zielkraft der Endstation angelockt, verführt und geformt.

 

 The arrow of time knows but one direction: the unknown, half-glimpsed; the feeling of insecurity that becomes a homestead, in millions of chambers of ignorance leading to the one great certainty...

 Der Pfeil der Zeit kennt nur eine Richtung: Das Unbekannte, das sich erahnen lässt, die Ungeborgenheit, die zur Heimstätte wird, in Millionen Kammern der Unwissenheit, die zur einzigen, großen Gewissheit führen ...

 

5

You don’t know a dram where they led us before,

will suffer from ignorance everyone

The futures open their folding door -

and hasty they close when the next step is done…

 

5

Man weiß nicht ein Quäntchen, wohin sie uns führen,

und niemand, der nicht an der Unkenntnis litt!

Die Zukünfte öffnen die Flügeltüren -

und schließen sie eilig nach jedem Schritt ...

 

 The poem is over – yet my path, my Dao, is only beginning again. (March 27, 1993).

 Das Gedicht ist zu Ende, doch mein Weg, mein Dao fängt greade wieder an. (27. März 1993).

 

P.S.

 Just a few days ago I was back in Berlin, again with Earth Mother Gaia – this time with Lilian, from the other side of the globe, my great love, who also happens to be my wife: Minamahal kita! – Din kita! On the night train, there and back, with fresh perspectives, millions of moments long...

P.S.

 Vor noch wenigen Tagen war ich wieder in Berlin, wieder bei Erdmutter Gaia, diesmal mit Lilian – von der anderen Seite der Erdkugel, meiner großen Liebe, die ganz nebenbei auch noch meine Ehefrau ist: Minamahal kita! – Din kita!, im Nachtzug, hin und zurück, mit frischen Perspektiven, Millionen von Augenblicken lang ...

 In the Jewish Museum – at first homely, then unsettling; on the Reichstag glass dome, in the streets, on the boat, in the souls, in the memories of the possible future: Berlin in my heart, and my new, almost finished Laozi book in my luggage

  cí  慈 compassion,

jn 儉 frugality,

hòu 後 modesty ... (ch. 67).

 

 Im Jüdischen Museum – erst heimelig, dann unheimlich, auf der Reichstagsglaskuppel, in den Straßen, auf dem Boot, in den Seelen, in den Erinnerungen an die mögliche Zukunft, Berlin im Herzen und mein neues, fast fertiges Laozi-Buch im Gepäck:

  cí  慈 Mitgefühl,

jn 儉 Genügsamkeit,

hòu 後 Bescheidenheit … (Kap. 67).

 

 New walls, new forms of hardship – but also an abundance of charm and untapped potential. “Charlotte has managed to move on,” Edna says, holding her fatherless infant granddaughter. Zugzwang – or a free choice of moves...

 Neue Mauern, neue Armut – auch viel Reiz, viel Potential. Charlotte hat es geschafft, sich zu trennen, sagt Edna, die neue kleine Enkelin ohne Vater auf dem Arm. Zugzwang oder freie Zugwahl …

© Hilmar Alquiros, 2006.

 

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