# 323: © 2019 Hilmar Alquiros, Philippines

 

 

Jenny and I.

Jenny und ich.

 I noticed him at once.

Joe’s Pub was only moderately crowded that night. The usual pot-bellied retirees sat together, reminiscing about how everything had once been better. Old Mrs. Stonewall was already nearing that moment when Joe would have to escort her into a cab. Every now and then he threw a quick glance at her seat.

 At the bar, a few oil-stained mechanics from Bill’s workshop next door stopped in for a quick beer on the way home to their all-too-familiar nests of marriage.

 

 Er war mir sofort aufgefallen.

 Joe's Kneipe war an jenem Abend nur mäßig besucht. Die üblichen Rentner mit Hängebauch, die miteinander bequatschten, was alles früher besser war. Die alte Mrs. Stonewall näherte sich dem Punkt, an dem Joe sie in etwa einer Stunde in ein Taxi begleiten musste: gelegentlich warf er schon erste prüfende Blicke auf ihre Sitzhaltung. Einige ölverschmierte Mechaniker aus Bill's Werkstatt nebenan, für ein schnelles Bier auf dem Weg nach Hause in ihr allzu vertrautes Eheleben.

 “Nothing for a lady like you tonight—right, Jenny?” Joe giggled from behind the counter. His warm-hearted tone made it impossible to be annoyed with him for even a second.

 And then he came in. Quietly he slipped into a corner seat, and the chatter in the room fell silent. Nothing about his appearance stood out, yet the moment he sat down, an invisible cloud of grief seemed to paralyze the entire mood. A few guests even paid already, though Joe carried on smoothly, as if nothing had changed.

 

 „Wieder mal nichts zu holen für 'ne Lady wie dich - stimmt's, Jenny?“ kicherte Joe hinter dem Tresen, und sein warmherziger Ton ließ mich ihm nicht eine Sekunde böse werden. Und just in diesem Moment war er reingekommen, hatte sich still in die hinterste Ecke gesetzt und alles Gerede im Raum ersterben lassen. Nichts Äußerliches fiel an ihm auf, aber seit er Platz genommen hatte, lähmte eine unsichtbare Wolke der Trauer jedermanns Stimmung. Einige Gäste zahlten sogar bereits, aber Joe ließ sich nichts anmerken.

 Once again I slid off the stool, swayed over to him with pliant hips, and asked the good old question:

 “Buy me a drink, mister?”

 

 Also räkelte ich mich wieder mal vom Hocker, ging mit biegsamen Hüften auf ihn zu und stellte die gute, alte Frage: „Spendieren Sie 'n Drink, Mister?“

 It took a while before he looked up. Then, with the tiniest flick of his finger, he confirmed Joe’s well-practiced eye. Despite the restlessness that had seized me, I sat down beside him and tried to start a conversation.

 Bit by bit I learned: he traveled constantly through the States for some organization, he rarely returned home to San Francisco, he was in his early forties—and he had a damned erotic voice!

 

 

 Es dauerte eine Weile, bis er hochsah, dann aber bejahte er mit einer winzigen Fingerbewegung Joe's eingespielten Blick. Ich setzte mich trotz der Unruhe, die mich erfasst hatte, direkt neben ihn und bemühte mich, ein Gespräch in Gang zu bringen. Nach und nach erfuhr ich, dass er für irgend so 'ne Organisation mächtig viel in den Staaten herumreiste, selten nach Frisco heimflog, dass er Anfang Vierzig war, eine verdammt erotische Stimme besaß!

 My professional interest had long since given way to private curiosity and a mounting tension, a strange longing for unity mixed with a deep shudder at the sadness in his eyes. We spoke no word. He looked at me for a long time. And when I brushed his leg, just barely, he paid for our drinks without hesitation and followed me upstairs.

 Mein berufliches Interesse war längst privater Neugierde und wachsender Spannung gewichen, eine seltsame Lust nach Verbundenheit verband sich mit einem abgründigen Schauder vor der Tiefe und Traurigkeit seiner Augen. Wir sprachen kein Wort. Er sah mich lange prüfend an. Als ich wie flüchtig sein Bein gestreift hatte, zahlte er sofort unsere Drinks und folgte mir nach oben.

 It was indescribable. Afterwards, he had pulled out his wallet, and after I wanted to wave in horror... he had taken a photo. Relieved, I let myself sink back into his shoulder and saw him pointing to the individuals.

 

 

 Es war unbeschreiblich. Anschließend hatte er die Brieftasche gezückt, und nachdem ich entsetzt abwinken wollte ... ein Foto entnommen. Erleichtert ließ ich mich in seine Schulter zurücksinken und sah ihn auf die einzelnen Personen zeigen.

 “My name is Adrian,” he began softly, “and you can believe me that I have not laughed for the past seven years exactly that day.” In fact, he had secretly kept silent, kissed electrifyingly, had grabbed me with animal-like power - but did not even show the approach of a smile.

 

 

 „Ich heiße Adrian“, begann er leise, „und du kannst mir glauben, dass ich auf den Tag genau seit sieben Jahren nicht mehr gelacht habe.“ In der Tat: er hatte geheimnisvoll geschwiegen, elektrisierend geküsst, mich mit animalischer Kraft gepackt - aber noch nicht einmal den Ansatz zu einem Lächeln gezeigt.

 “My father-in-law had just taken this photo. Next to me is Lex; he was only two years old, but he still guards the house. Miriam and Sarah were twelve and ten, back then. Miriam is now studying in Florida, and Sarah is just starting to turn heads of the boys in college.”

 

 

 „Mein Schwiegervater hatte dieses Foto gerade eben geschossen. Neben mir läuft Lex; er war erst zwei Jahre alt, aber er bewacht noch immer das Haus. Miriam und Sarah waren damals zwölf und zehn. Miriam studiert jetzt in Florida, und Sarah beginnt gerade den Jungs im College die Köpfe zu verdrehen.“

 Behind the two girls were a slightly older, cheerful-looking woman and a young, enviably pretty, slender woman. All five sat on bicycles. Only very short shadows clung to the dirt road.

 

 

 Hinter den beiden Mädchen waren eine etwas ältere, fröhlich dreinschauende und eine junge, beneidenswert hübsche, schlanke Frau zu erkennen. Alle fünf Personen saßen auf Rädern, auf dem Feldweg duckten sich nur sehr kurze Schatten.

 “Between her mother and me…” he pointed even more softly at the picture, “…that was her. That was Saskia.” He took his bearded face in both hands and stayed silent for a long while. I didn’t interrupt him.

 „Zwischen ihrer Mutter und mir,..." deutete er noch leiser mit dem Finger auf das Bild, "...das war sie. Das war Saskia.“ Er nahm sein bärtiges Gesicht in beide Hände und schwieg eine Weile. Ich unterbrach ihn nicht.

 A few minutes after her father had taken the photo, a bus skidded on the adjacent street, trying to avoid a group of riders. It drove straight through us. I barely managed to push the girls into the meadow—brakes screeched, dust from the dirt road wrapped around us. I dragged myself back, heard Saskia’s mother cry out, fell upon Saskia, on her open mouth beneath her open eyes, tried to breathe for her, to die for her…

 

 „Ein paar Minuten, nachdem ihr Vater also das Foto geschossen hatte, kam auf der angrenzenden Straße ein Bus ins Schleudern, hatte einer Reitergruppe ausweichen wollen. Er fuhr einfach mitten durch uns hindurch. Ich hatte gerade noch die Mädchen in die Wiese schubsen können -  Bremsenquietschen, der Staub des Feldweges umhüllte uns, ich schleppte mich zurück, hörte Saskias Mutter aufschreien, fiel auf Saskia, auf ihren geöffneten Mund unter ihren geöffneten Augen, versuchte für sie zu atmen, für sie zu sterben ...“.

 When I saw good old Jenny in the mirror above the bed, she was crying her first tears since the surgery back then that had left her without hope of children, and since she’d started her new job with Joe.

 

 Als ich die gute, alte Jenny im Spiegel über dem Bett sah, weinte sie die ersten Tränen seit der Operation damals ohne Aussicht darauf, jemals Kinder zu haben, und als sie danach bei Joe ihre neue Arbeit begonnen hatte.

 Now Adrian began to smile just a little. “I think today I let go of Saskia.”

 

 Jetzt begann Adrian ein ganz klein wenig zu lächeln: „Ich glaube, heute habe ich Saskia losgelassen.“

 “Not until now…?”

 

 „Bis jetzt nicht ...?“

 He nodded thoughtfully. “Yes, seven years have been enough.”

 

 Er nickte nachdenklich. „Ja, sieben Jahre waren genug.“

 “What will you do now?” I heard Jenny ask from afar.

 

 „Was hast du nun vor?“ , hörte ich Jenny wie von Ferne fragen.

 “I’m tired of hotel life. Writing short stories for a few TV stations. I bought a small house by the sea, just outside the Canadian border.” He had finished dressing. I felt Jenny wanting to be ME again, and still I couldn’t say a word.

 

 „Ich habe das Hotelleben satt. Schreibe Kurzgeschichten für einige TV-Stationen. Hab' ein kleines Haus gekauft, am Meer, kurz vor der kanadischen Grenze.“ Er hatte sich inzwischen fertig angezogen. Ich fühlte, wie Jenny wieder ich sein wollte und dennoch kein Wort über die Lippen brachte.

 “Could use someone to make me a strong coffee, now and then?”

 My heart leapt, and my only suitcase was packed in no time.

 

 „Könnte jemand brauchen, der mir ab und zu 'nen starken Kaffee macht.“ Mein Herz hüpfte und mein einziger Koffer war schnell gepackt.

 “Take care, Joe!” I said curtly.

 He nodded thoughtfully, and I felt taken seriously again. Since then, a few years have passed, Adrian has learned to laugh again, and we have written the next short stories together.

 „Mach's gut, Joe!“ sagte ich knapp. Er nickte nachdenklich, und ich fühlte mich wieder ernst genommen. Seitdem sind ein paar Jahre vergangen, Adrian hat wieder lachen gelernt und die nächsten Kurzgeschichten haben wir zusammen geschrieben.

 

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 © Hilmar Alquiros, 2006

 

 

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